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Sie sind die „Unsichtbaren“ unter den Wohnungslosen: Menschen in verdeckter Obdachlosigkeit. Sie leben nicht auf der Straße, sondern bei Freunden und Bekannten. Dort haben sie ein relativ sicheres Plätzchen, anscheinend. Doch die Unterkunft ist immer gefährdet, er oder sie ist abhängig vom Wohlwollen und den Launen des Kumpels oder Bekannten. Gewalt gegen prekär lebende Wohnungslose ist keine Seltenheit. Frauen sind zudem häufig von sexueller Gewalt durch ihre Gastgeber betroffen.
Konnte bisher die Zahl der verdeckt lebenden Wohnungslosen nur geschätzt werden, so gibt es seit 2022 halbwegs verlässliche Angaben. Möglich wurde dies durch den Wohnungslosenbericht, den die Gesellschaft für innovative Sozialplanung und Sozialforschung (GISS) im Auftrag des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales erarbeitet hatte. Den Wissenschaftlern zufolge wird die Gesamtzahl der erwachsenen Wohnungslosen ohne Unterkunft in Deutschland auf 37.400 Personen geschätzt, die Zahl der erwachsenen verdeckt Wohnungslosen auf 49.300. Hinzu kommen 5.500 Kinder und Jugendliche, die mit einem oder zwei Elternteilen in verdeckter Obdachlosigkeit leben. Weitere 1.100 Minderjährige leben auf der Straße. Rund 80 Prozent der Menschen ohne Unterkunft sind Männer, 20 Prozent sind weiblich, fand das Institut heraus. Der Frauenanteil der verdeckt Wohnungslosen liegt mit 40 Prozent deutlich höher, so die Forscher. Rund 24 Prozent der verdeckt Wohnungslosen stammen aus ost- oder südosteuropäischen EU-Ländern.
Wer seine Wohnung verliert, hat noch die Chance auf eine „öffentlich-rechtliche“ Unterbringung. In Hamburg ist das meist die städtische Gesellschaft fördern&wohnen oder es sind freie Träger der Wohlfahrtspflege. Über diesen Personenkreis gibt das Statistische Bundesamt Auskunft. Demnach lebten zum Stichtag 31. Januar 2024 im Bundesgebiet etwa 439.500 in kommunalen Unterkünften. 2022 waren es noch 178.000, 2023 bereits 372.000 Menschen, womöglich eine Folge der Massenflucht aus der Ukraine nach dem russischen Angriff 2022. In Hamburg seien die öffentlichen Unterkünfte bereits jetzt überfüllt, heißt aus Kreisen der Obdachlosenzeitung Hinz&Kunzt.
Für Hamburg selbst gibt es aktuell keine zuverlässigen Daten über verdeckt lebende Wohnungslose, auch nicht über die Zahl der auf der Straße lebenden Personen. Eine Befragung im Jahr 2009 ergab, dass 1.029 Personen ohne Obdach waren. 2018 waren es bereits 1.910 Menschen – eine Steigerung um 85,6 Prozent. Aktuell mögen es nach Schätzungen von Insidern wohl um die 4.000 sein, die ohne eigene Wohnung sind, auf der Straße leben oder bei „Bekannten“.
Wie wird den Menschen, die in Not geraten sind, geholfen? Die Sozialbehörde verweist auf ein enges Beratungs- und Hilfenetz. In der offiziellen Broschüre werden zahlreiche Anlaufstellen genannt, die sich an von Obdachlosigkeit bedrohte Menschen als auch an Betroffene ohne eigenen Hausstand wenden. Doch was ist, wenn etwa ein verdeckt Wohnungsloser ein Wohnungsangebot hat, nun schnell eine Kaution oder einen Genossenschaftsanteil aufbringen muss, die die Ämter als Darlehen gewähren? Und wer zahlt die erste und die folgenden Mieten, wenn der Mensch mittellos ist?
Hier wiehert – freundlich formuliert – oftmals der Amtsschimmel, was aber durchaus desaströse Folgen für die Betroffenen haben kann, wie das Beispiel Bertram Jansen (Name geändert, die Red.) zeigt. 2019 hatte der damals 60-Jährige seine Wohnung in Stade aufgrund eines Mietstreits mit dem Eigentümer verloren, nachdem das Jobcenter die Zahlungen eingestellt hatte. Eine Klage vor dem Sozialgericht gegen das Jobcenter ging verloren. Jansen hatte aber Glück im Unglück, sein Anwalt verzichtete auf seine Gerichtsgebühren, er fand auch Unterschlupf bei einem Freund, war also verdeckt wohnungslos. Das örtliche Jobcenter verweigerte jedoch die Mietzahlung, musste erst per Gerichtsbeschluss dazu gezwungen werden.
Als Jansen schließlich über einen anderen Freund Aussicht auf eine Genossenschaftswohnung in Hamburg hatte, ging das Spiel von Neuem los. Jansen: „Um die neue Wohnung anmieten zu können, musste ich Bundesland und Jobcenter wechseln. Das erforderte spezielle Anträge, über die mich weder das alte noch das neue Jobcenter informierte, sondern die Mitarbeiter der Genossenschaft.“ Mündlich geäußerte Auskünfte von verschiedenen Jobcenter-Mitarbeitern, mit denen Jansen telefonierte, widersprachen sich. Es folgten weitere Hürden, so ging unter anderem sein Mietvertrag, eingereicht beim Jobcenter, verloren, tauchte später aber als Kopie wieder auf. Das Original kursiert vermutlich in den Tiefen der Bürokratie. Schließlich konnte Jansen doch einziehen. Sein Resümee: „Nur das Entgegenkommen der Genossenschaft ermöglichte mir schließlich den Einzug.“
Dass es sich bei diesen grotesken Erfahrungen nicht um ein Einzelschicksal handelt, dokumentiert eine zehnseitige Studie des Diakonischen Werks Hamburg von 2023. Unter dem spröden Titel „Zugangs- und Kommunikationsbarrieren in der öffentlichen Verwaltung“ listet die Diakonie den Umgang von Jobcentern und Grundsicherungsämtern mit den von ihnen Abhängigen auf. So heißt es beispielsweise über das Bezirksamt Hamburg-Mitte: „Der Standort Hamburg-Mitte ist offenbar telefonisch und per Mail kaum bis gar nicht erreichbar.“ Bestehe dringender Handlungsbedarf „müssen Leistungsberechtigte bis zu zwei Monate auf die Leistungsgewährung warten“. Und sind natürlich in dieser Zeit mittellos.
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