Historisches Bild von zwei Motorradrennfahrern
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Artikel der Ausgabe: 03 / 2024

Rekordkulisse in Lokstedt

Auf dem NDR-Gelände im Stadtteil Lokstedt befand sich früher eine Rennpiste – und die deutsche Box-Ikone Max Schmeling sorgte dort für einen bis heute gültigen Rekordbesuch.

Dort, wo heute die Nachrichten der Tagesschau verlesen werden, ging es früher lärmend zu. Seit dem Sommer 1929 knatterten und röhrten Motorräder über die Rennpiste der Dirt-Track-Bahn. Das Gelände, auf dem sich heute die Studios des Norddeutschen Rundfunks NDR) befinden, war nicht nur das frühe Mekka der Motorsport-Enthusiasten – 1934 lockte Max Schmeling 100.000 Zuschauer an den dort eigens aufgestellten Boxring.

Die zwölf bis 24 Meter breite und 536,3 Meter lange Rennstrecke sorgte Ende der 1920er-Jahre überregional für Aufsehen. „In unmittelbarer Nähe Hamburgs, zwischen Stellingen und Lokstedt, ist anschließend an den Hagenbeckschen Tierpark eine Motorrad-Rennbahn entstanden, die in der Anlage für Deutschland neuartig ist und die Begriffe der Allgemeinheit von der Beschaffenheit einer solchen Bahn vollkommen umstößt“, schrieb der Korrespondent der Kölnischen Zeitung am 26. Juli 1929 und erklärte der Leserschaft die besondere Beschaffenheit der Rennstrecke: „Man hat nicht etwa Beton oder Asphalt, sondern ein Gemisch aus Grus, Sand, Asche und Schlacke als Decke  genommen, also eine regelrechte Aschenbahn angelegt. Unter dem Namen Dirt-Track-Bahn hat man sie bereits verschiedentlich im Ausland.“

Die Bahn befand sich zunächst jedoch nicht in Hamburg, sondern in Lokstedt. Das holsteinische Dorf gehörte früher zur Herrschaft Pinneberg und war 1867 preußisch geworden. 1927 wurde der Vorort durch den Zusammenschluss mit Niendorf und Schnelsen zur Preußischen Großgemeinde Lokstedt. Erst infolge des Großhamburg-Gesetzes wurde Lokstedt 1937/38 Hamburger Stadtteil. Das Areal für die Motocross-Bahn war von Veranstalter Walter Rothenburg ausgewählt worden, weil die Weitläufigkeit des Geländes Platz für 60.000 Zuschauer bot – „bei einwandfreier Sichtmöglichkeit“ auf den Terrassen. „Die Beleuchtungsfrage, die hohe Bedeutung bei diesen meist abends abgehaltenen Rennen hat, ist vorbildlich derart gelöst, da? die Bahn sehr hell und vollkommen schattenlos daliegt, während andererseits eine Dämpfung der Lichtquellen das Auge schont“, so die Kölnische Zeitung. Erbauerin und Besitzerin der Anlage an der Kampstraße (heute Gazellenkamp) war die Hamburger Motordrom A.G.

Auf der Aschenbahn lieferten sich damals berühmte Fahrer wie Herbert Drews (Deutschland), Ginger Lees, Jack Wood (beide England) und Morian Hansen (Dänemark) heiße Rennen. Sie waren – ähnlich den Fußballern heute – die Ikonen der von den „Feuerstühlen“ begeisterten Jugend. Einquartiert waren die Helden der Rennstrecke nur einen Steinwurf entfernt an der Königstraße (heute Grelckstraße) im Sportlerheim Jalandt. „Zum Leidwesen vieler Eltern umschwärmten vor allen Dingen die jungen Mädchen das Haus Jalandt wie die Motten das Licht“, berichtet die Heimatforscherin Helene Koden in ihrem Bildband „Unvergessenes Dorf Lokstedt“. Doch schon bald wurden die Flächen rund um die Dirt-Track-Bahn bebaut, und der Lärm der Motoren setzte den Anwohnern zu. Einige Jahre vor dem Zweiten Weltkrieg wurde der Rennbetrieb schließlich eingestellt, fortan fanden dort nur noch Boxkämpfe statt.

Als Höhepunkt der kurzen Geschichte der imposanten Sportstätte gilt der Boxkampf zwischen Max Schmeling und seinem Herausforderer Walter Neusel am 26. August 1934, den Ex-Weltmeister Schmeling in der neunten Runde durch technischen K.o. gewann. An dem lauschigen Spätsommertag herrschte Volksfeststimmung. Auf den Wiesen, die von unüberschaubaren Menschenmengen vom Verkehrsknotenpunkt Siemersplatz aus passiert werden mussten, buhlten Betreiber von Würstchen- und Getränkebuden um Kundschaft. Schon Stunden vor dem ersten Gongschlag hatte sich der Verkehr auf dem Zubringer Hoheluftchaussee gestaut – so groß war das Interesse.

Sogar Autos mit skandinavischen, französischen, belgischen, holländischen und englischen Kennzeichen wurden gesichtet. Sonderzüge aus Berlin, Essen, Breslau und anderen Städten beförderten die Zuschauermassen nach Lokstedt. 102.000 Schaulustige sollen es schließlich gewesen sein – ein Rekord für Boxkampfveranstaltungen, der bis heute in Europa gültig ist. „Das hat Hamburg noch nicht erlebt, bei keinem Stapellauf, bei keinem Derby. Auch wer am Kampf nicht interessiert ist, muss zugeben, dass der Sport es fertiggebracht hat, ungeheure Menschenmassen zu mobilisieren“, frohlockte das Hamburger Fremdenblatt.

Nach dem Krieg diente das Areal laut Polizeiberichten als „Deportiertenlager“. Bis 1950 war das Gelände mit 370 „ausländischen Zivilarbeitern“ belegt, die in Nissenhütten und Baracken untergebracht waren. Seit 1953 sendete das NDWR-Fernsehen von dort, ab 1957 erwarb der Nachfolger NDR die Grundstücke schrittweise.

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